Von weitem
zu den Zeichnungen von Katy Feuersenger von Ina Weißflog Von weitem ist wenig zu erkennen. Das weiße Papier scheint vor der Wand zu schweben, seine Ränder wölben sich leicht vor. Bei näherem Hinsehen werden linksbündig gesetzte Zeilen sichtbar, mit einiger Geduld ist ein Text zu entziffern. Jemand erkundigt sich nach Berlins Befinden, fragt auf Englisch nach den Leuten, den Häusern, den Autos, trägt von weit her Aufgeschnapptes über die Wiedervereinigung zusammen. Ob Berlin noch sehr geteilt sei? Immerhin sei es ja dieselbe Kultur, oder? Aus der Nähe schließlich zerfallen Zeilen und Buchstaben in ein durchlässiges Feld diagonal gesetzter, kurzer Striche. Von dem, was wir eben aus der Distanz gesehen haben, bleibt aus dieser Perspektive nur eine Erinnerung. Das formale Spiel mit Nähe und Ferne wiederholt sich in how (Bleistift auf Papier, 200 x 150 cm, 2008) auf inhaltlicher Ebene: Dinge, nach denen man mit einigem kulturellen Abstand in simplen Sätzen fragen kann, erscheinen aus der Nähe als so komplexe Vielheit, dass es kühn anmutet, sie zu einer kompakten Formulierung wie ‚the same culture’ zusammenzufassen. Einen idealen Betrachterstandpunkt, von dem aus sich die Zeichnung vollständig erschließt, gibt es nicht. Wo immer man sich platziert, man erfasst nur einen Teil des Ganzen. Katy Feuersenger macht die Unmöglichkeit des Erkennens im Stillstand physisch erfahrbar, indem sie dem Betrachter das Werk in seiner mehrdimensionalen Gesamtheit einfach entzieht. Sie verlangt ihm Bewegung ab, ein Sich-nähern und Entfernen, Sehen und Erinnern, Konstruieren und Rekonstruieren, Ergänzen und Imaginieren. Auf diese Weise wird auch bei that (Tuschestift auf Papier, 200 x 150 cm, 2008), aus einem flimmernden Schwarm lose und regelmäßig gesetzter Punkte allmählich eine angeschnittene Form deutlich, die, wenn man sie in der Vorstellung vervollständigt, an ein dreiatomiges Molekül erinnert oder an einen gotischen Dreipass. Ihr Inneres lässt eine wie aus vielen Teilen zusammengesetzte Grundrissform frei. Diese erinnert an eine labyrinthische, über einen langen Zeitraum gewachsene Architektur, ähnlich einer minoischen Siedlung. Darunter reihen sich Punkte zu Linien, Linien werden zu Buchstaben, Buchstaben zu Wörtern und die Wörter zu einem rätselhaften Satz ohne Punkt und Komma, dessen Herkunft offen bleibt und der sich nun mit den anderen Bildelementen zu einem neuen Ganzen verbindet. Der von der Odyssee über den klassischen Bildungsroman und das romantische Fernweh bis hin zum Roadmovie tradierte Reisetraum erschöpft sich bei If you could (Tuschestift auf Papier, 63,5 x 48 cm) in dem kindlich begeisterten Wunsch, nach Disneyland zu reisen. Die grelle, artifizielle, kommerzielle Spaßwelt wird der ‚echten’, die man sonst entdecken wollen könnte, nicht nur gleichgestellt, sondern vorgezogen. Die wie im Fallen begriffene Kreisform, aus deren strichcodeartigen Diagonallinien die Lettern ausgespart sind, erscheint weniger als kugeliger Erdball denn als gewölbte Scheibe. Leicht Dahingesagtes, ein erinnerter Grundriss, ein Gespräch in der Bahn, ein Gefühl, ein gefaltetes Blatt Papier, eine Zeitspanne, eine Bewegung, Strukturen und Fragmente werden gesammelt, gefiltert und umgedeutet, indem sie dem Alltag enthoben und in einen neuen Kontext gebracht werden: reduzierte und bestimmt gesetzte Formen, viel Weiß, viel Stille, eine großzügig kalkulierte Projektions- und Reflexionsfläche. Mit eigentümlich zarter Monumentalität extrahiert Katy Feuersenger aus der Wirklichkeit eine geheimnisvolle und zugleich klar formulierte Poesie. Ina Weißflog |